Boualem SANSAL
HARRAGA

Roman
Deutsch von Riek Walther
388 S., Klappenbr., EUR 15,80

ISBN 978-3-87536-294-7

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"Harraga"

Meine Haustür gibt ein beängstigendes Geräusch von sich. Sie macht nicht klopf klopf, sondern päng päng. Sie ist gepanzert, das ist das Eine, aber trotzdem denkt man heutzutage an andere Dinge.
Beim Öffnen halte ich mich im Schutz des Türrahmens. Ein Reflex. „Chkoun? Wer da?“ Es ist weder die Patrouille noch ein Prediger noch ein Verfechter der Wahrheit noch die Nachbarin aus der Rue Marengo, eine pausbäckige alte Medusa mit tausend abgedroschenen Überzeugungen, die immer wieder auf die Neuigkeiten zurückkommt, noch sonst etwas derart Böses. Zum Glück ist es nicht unser Briefträger, der gute Moussa, der Galeerensklave von Rampe Valée, ein entsetzlich geschwätziges altes Schlachtross, das auf seinem Weg Tag für Tag, ausgenommen während Unruhen oder Streiks, papierne Schrecknisse und Viren aussät, sondern ein junges Mädchen von der lustigsten Sorte. Sie antwortet: „Ich bin’s!“ Völlig unbekannt. Schmächtig, Kleidung à la Star Academy, allerdings mit den hauseigenen Mitteln. Rechenfehler oder reine Erfindung, allein der Spitzenkragen eignet sich als Verkleidung für einen Tross von närrischen Weibern. Ganz adrett, bis auf die Kakophonie der Farben. Ihre Frisur hat sie bei verschiedenen Bräuchen geklaut, sowohl uralten als auch solchen vom letzten Schrei. Geschminkt bis zum Anschlag. Die Augen, schwarz, weiß und lebhaft, schwimmen in einer Lache Wimperntusche, die von reichlich Grün umgeben ist. Es fehlt nichts, ein Haarwirbel, ein Gerstenkorn vielleicht, und man könnte meinen, der kleine Dreckspatz käme aus einem fernen Landstrich. Ihr Parfum steht der Wolke von Tschernobyl in nichts nach. Ein wandelnder Skandal, der auf unerklärliche Weise Allahs Zorn entgangen ist. Eine geringelte Reisetasche macht ihre sechzehn, siebzehn Wanderjahre komplett. Sie liegt zu ihren Füßen wie die Hülle einer frisch gehäuteten Schlange. Die ausgesprochen vollen Lippen zu einem blutroten Schmollmund verzogen, zwischen Ärger und Frage. Eine Miene, als gäbe es hinter dem hochnäsigen Lächeln keinerlei Zweifel. Und als Krönung, ein dicker Babybauch mit freiliegendem Nabel.
„Tante Lamia?“, sagt sie entschlossen von der ganzen Höhe ihrer Einsfünfzig herab.
„Äh ... kommt drauf an.“
„Ich bin Chérifa!“
„Aha ... und weiter?“
„Sofiane schickt mich. Ich komme aus Oran.“
„Was??!!“
„Hat er dich nicht angerufen?“
„Äh ... nein.“
„Darf ich reinkommen?“
„Äh ... wenn du willst.“
„Danke.“
„Nein, ich danke.“
„Es ist komisch bei dir.“
„Findest du?“



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